„Non konform - Russische Kunst aus der Sammlung Breitscheidel“.

 

Autoren: Verena Beaucamp M.A., Dr. Lusine Breitscheidel, Dr. Elena Korowin, Angelika Mundorff M.A.

Herausgebern: Verena Beaucamp M.A., Dr. Barbara Kink, Angelika Mundorff M.A.

2020

ISBN: 978-3-9821516-0-1

 

Valery Valius wurde 1939 in Moskau als Sohn des inoffiziellen Künstlers Pjotr Valius und der Schriftstellerin Anna Valtseva geboren.1 Der Vater, der den Ingenieurberuf und die damit verbundene materielle Sicherheit nach 35 Jahren schließlich für das unstete Leben eines inoffiziellen Künstlers aufgab, versuchte früh, seinen Sohn für die Malerei zu interessieren. Valery entschied sich jedoch zunächst für das Studium der Naturwissenschaften und promovierte an der Moskauer Universität im Fach Geophysik. Erst die intensive Auseinandersetzung mit dem Werk des Vaters nach dessen Tod 1971 änderte Valius Einstellung, und er begann 1972, sich neben verschiedenen Tätigkeiten, u. a. als Programmierer, autodidaktisch mit der Malerei zu beschäftigen. In dem kleinen Moskauer Kelleratelier, das der Vater kurz vor seinem Tod zur Verfügung gestellt bekommen hatte, organisierte Valius private Ausstellungen und Kunsttreffen. Um der künstlerischen Enge und den ideologischen Einschränkungen durch das totalitäre Regime zu entgehen, emigrierte Valius 1977 nach Deutschland. Ab 1986 lebt und arbeitet er in München als freischaffender Künstler. Seine Werke stellt er unkonventionell aus - im Park, auf Bäumen, im Schnee, auf Bürgersteigen neben dem Straßenverkehr oder auch in Kellern, Dachwohnungen und Ateliers anderer Künstler. Da die vom offiziellen Kunstbetrieb weitgehend ignorierten Gemälde des Vaters Gefahr liefen, beschlagnahmt oder zerstört zu werden, nahm Valius sie mit in den Westen, um sie weiter der Öffentlichkeit präsentieren zu können. Nachdem Gorbatschows Reformprozesse Ende der 1980er Jahre die Lockerung der Redefreiheit und die Öffnung zum Westen eingeleitet hatten, kehrte Valius 1991 mit den Bildern des Vaters zurück nach Moskau. Bis heute organisiert er zahlreiche Ausstellungen und beschäftigt sich seit einigen Jahren intensiv mit Computergrafik und Videokunst.

Valius ist Mitglied des Berufsverbandes Bildender Künstler Landesverband Bayern e.V. (BBK) und des Moskauer Künstlerverbandes. Seine Werke befinden sich in Galerien und Privatsammlungen in Russland, Deutschland, USA, Kanada, Israel, England, Holland, Schweiz, Dänemark, Norwegen, Südkorea und dem Iran. Seit 1987 präsentiert er seine Gemälde in zahlreichen russischen und internationalen Einzel- und Gruppenausstellungen, seit 2009 beteiligt er sich an verschiedenen Computergrafik-Ausstellungen.

 

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Valius interessierte von Anfang an nicht so sehr die von außen sichtbare Welt, sondern vor allem die geistigen Ideen hinter der realen Materie. Die analytische Herangehensweise des Physikwissenschaftlers prägte seine ersten Arbeiten entscheidend. Inspiriert von Erkenntnissen der Quantenphysik begann er visionäre, durch Lichtreflexe auf Objekten hervorgerufene Erscheinungen in Fotos festzuhalten und diese dann in figurative Malerei umzusetzen.

Der Künstler ist überzeugt, dass Bilder sich besser eignen, Botschaften zu übermitteln als die Sprache. »Bilder in ihrer grafischen Verkörperung sind leichter verständlich als Worte. Das Erfassen von Bildern geht schneller als die Lektüre eines Textes.« Wie intensiv symbolhafte Bilder auf die Menschen wirken und wie überzeugend mit Mitteln der Kunst politische Botschaften vermittelt werden können, war den Künstlern des kommunistischen Sowjetregimes genau bewusst. »Kunst, speziell Malerei hat viele verschiedene Funktionen. In Gesellschaften mit strengem politischem Regime soll sie den Menschen demonstrieren, dass alles in Ordnung ist und es keinen Grund zur Sorge gibt - schöne Landschaften, pralle Stillleben, glückliche Familien, freudvolle Arbeit, großartige Leistungen, Porträts von Herrschern überall. Für Deutsche kann man den Sozialistischen Realismus am besten mit der Kunst unter Hitler erklären.«2 Wie auch einige der anderen nonkonformistischen Künstler, etwa Erik Bulatow (geb. 1932), arbeitet Valius mit den gängigen Symbolen des Marxismus-Leninismus, setzt sie aber spielerisch-ironisierend ein. So ist Unsere Lokomotive (Abb. S. 22) mit dem Konterfei

 
München 1987

»Die Untersuchung des Bildes dauert kürzer als das Lesen eines Buches, im Gemälde gibt es keine Übersetzung in alphabetische Symbole, die erklären was sie bedeuten. Bilder sagen in der Regel nichts über deren Urheber aus, sondern über andere Menschen und für andere Menschen - sie sind für den Betrachter erschaffen.«

 

Unsere Lokomotive, 2003

 

Lenins einerseits ein Verweis auf das beliebte kommunistische Kampflied »Flieg vorwärts unsere Lokomotive, erst in der Kommune sollst du anhalten, dies ist unser einzig möglicher Weg [...}«, andererseits ist das Schneeschieber-Schild auch ein kritischer Hinweis auf Säuberungsaktionen durch die Staatsmacht. Zusätzlich werden Assoziationen an eine 1974 von Bulldozern gewaltsam zerstörte Freiluftausstellung in Moskau hervorgerufen. Auf Valius Gemälde verhindern fest ins Gleis genagelte Poller die Weiterfahrt der Lokomotive. Hammer und Sichel - in der sowjetischen Propaganda Symbole für den Zusammenhalt von Arbeitern und Bauern - werden umgedeutet, indem sich die Figur, der Propaganda überdrüssig, die Sichel an die Kehle hält.

 

Meist sind Valius geheimnisvolle symbolische Gemälde nicht gleich auf den ersten Blick zu verstehen. Die surrealen Kompositionen, die fantasievollen Figuren und amphibienartigen Mischwesen mit menschlichen Zügen scheinen wie Malerei gewordene Bilder aus Träumen oder Illustration von Gedanken über Erlebtes. Wenig verwunderlich, dass Valius als eines seiner Vorbilder Edvard Munch (1863-1944) nennt, der sich intensiv mit seinen Träumen beschäftigte und daraus einen eigenen Symbolismus entwickelte. Berührung zeigen seine Werke auch mit den surrealistischen Werken von Max Ernst (1891-1972). Seine Gedanken und Gefühle über das Leben formuliert Valius mit einer konzentrierten symbolischen, zeichenhaften Bildsprache von expressiver Farbigkeit.

Durch das Weglassen ablenkender Formen konzentriert er sich gezielt auf wenige Motive, die vereinfacht und verfremdet zu Metaphern werden. Äußerungen zu gesellschaftlichen Problemen wie Menschenrechtsverletzung, Machtmissbrauch und Umweltkatastrophen finden sich ebenso in Valius Werk wie sinnliche, zwischenmenschliche und religiöse Themen. Immer steht bei Valius der Mensch mit all seinen emotionalen Seiten im Mittelpunkt. Die assoziative Gefühlswelt des Betrachters soll angesprochen werden und jeder ist aufgefordert, die Bedeutung und den Sinn des Bildes auf seine eigene Art zu finden.

 

Denkmal für einen unbekannten Gefangenen, 1996

 

Das Denkmal für einen Gefangenen ist eine einzige Anklage, formuliert mit mehreren assoziativen Elementen: Ausgehend von dem vergrößerten Foto einer zerdrückten Zigarettenkippe stellt Valius einen überdimensionalen menschlichen Schädel neben einem Ausschnitt der Kremlmauer dar. Im Hintergrund finden sich Hinweise auf das Mahnmal für die Opfer des Vernichtungslagers von Treblinka von Vadim Sidur3 und auf die Skulptur des Bildhauers Mikhail Shemyakin zum Gedenken an die Opfer politischer Repressionen,4 kombiniert mit Details einer Industrieanlage, die häufig von Gefangenen gebaut wurden. Mit dem beklemmenden Bild Die Lupe prangert Valius sehr drastisch die gewalttätigen Übergriffe auf Frauen in russischen Gefängnissen an.

Häufig arbeitet Valius mit einem Kittmesser, so entstehen breite Striche und ein pastoser Farbauftrag. Das Interesse an spielerischem Gestalten mit klaren Formen und kräftigen Farben weckte vor einigen Jahren sein Interesse an der Computergrafik, mit der er seine eigenen und auch die älteren Gemälde seines Vaters neu gestaltet.

 

1 Ausführliche Biografie auf homepage http://vpvalius.ru (aufqerufen am 28.10.2019)

2 Ebd., Interview Valery Valius auf homepage

3 Die Skulptur des russischen Bildhauers Vadim Abramowitsch Sidur (1924-1986) von 1966 wurde 1979 auf dem Amtsgerichtsplatz in Berlin-Charlottenburg aufgestellt.

4 Die Große Sphinx von Mikhail Schemyakin (geb. 1943) wurde 1995 in St. Petersburg vor dem Kresty-Gefängnis aufgestellt.

 

   

Foto-Visionen

 

Humanitäre Hilfe, 1996

 

Die Lupe, 1990

 

Die Psychiatrie, 2005

 

Hammer und Sichel, 2001

 

Der blaue Vogel, 2010

 

Wenn der Deckel entfernt wird, 2016

 

Die Erbin, 1992

 

Die Umarmung, 2014