Valius V.P.
Bericht auf der Internationalen Konferenz "Scientific Art", 2012, Moskau, Staatliche Universität Moskau
Von Bildern zum Verständnis der Realitäten des Kultursystems
1. Es gibt nicht nur das Offensichtliche. Wissenschaftler müssen Experimente starten, besondere Bedingungen schaffen, unter denen sich Phänomene bemerkbar machen, die sich normalerweise nicht manifestieren. Und zwar müssen es bedeutende Phänomene sein. Auch wenn sie im täglichen Leben möglicherweise nicht auffallen.
2. Ich möchte von einem solchen Experiment erzählen. Sie können sagen, dass das Schicksal es mir auferlegt hat. Ich werde die Bedingungen beschreiben:
Mein Vater war ein Künstler - Valius Petr Adamovich (1912 - 1971).
Ein paar Worte über ihn:
Er wurde geboren, lebte und starb in Moskau. Im Alter von 35 Jahren verließ er das Ingenieurwesen und widmete sich der Malerei. Er verdiente seinen Lebensunterhalt mit Buchgestaltung. Als der Maler mit 50 Jahren auf seiner vollen Höhe war und sich außerhalb des Bereichs des sozialistischen Realismus befand, beschäftigte er sich mit Expressionismus, emotionalem Farbeinfluss, der Bekenntnis und kreativem Widerstand gegen ideologische Maßstäbe.
Zu seinen Lebzeiten hatte er zwei Ausstellungen mit Wissenschaftlern: eine dreitägige Ausstellung im Institut Nesmeyanov und weitere 10 Tage im Institut für Atomphysik Kurchatow. Es gab noch eine weitere im Keller seiner Werkstatt. Er erhielt ihn kurz vor seinem Tod und konnte darin nicht arbeiten. Zwei Monate vor seinem Tod hängten meine Mutter und Freunde seine Bilder an die Wände und öffneten die Türen für das Publikum. Zuerst jeden Tag, dann einmal pro Woche. Und so 4,5 Jahre, bis die Behörden die Werkstatt konfiszierten. Ungefähr gab es über 50.000 Besucher zu dieser Zeit. Ohne Werbung, ohne Sponsoren. Also wurde ich ein PR-Mann - und zeigte den Menschen Bilder.
Die Merkmale des Experiments sind:
A) Informelle Anerkennung der Bilder, ihr humanitärer Wert ist erwiesen.
B) Unmöglichkeit, sie zu konjunkturbedingten Waren zu machen. Sie sind schon fertig.
C) Die Dauer dieses Experiments – 40 Jahre. Ungefähr hundert Ausstellungen sind seitdem stattgefunden. Nach meiner Auswanderung im Jahr 1977 habe ich seine Ausstellungen im Westen arrangiert, und nach 1990 bin ich nach Russland zurückgekehrt und organisierte Ausstellungen hier.
Mit diesem Bericht versuche ich nicht, Schicksal der Bilder zu regeln, ich spreche über das Kultursystem, über das ich meine Erfahrungen gemacht habe.
3. Der Zweck, die Bilder den Zuschauern zu zeigen.
Nun, es ist so eine Nahrung für den Verstand und das Herz des Publikums. Manche Leute brauchen es. Hier sollten wir genauer hinschauen, weil Kunst viele Funktionen hat.
Nehmen wir ein Beispiel. Ein Künstler malte einmal ein Porträt einer Frau. Auf dem Bild lächelt sie nicht allzu offen, vielleicht kann sie einige Gedanken nicht verdrängen. Anschließend wurde das Bild endlos in der ganzen Welt reproduziert, viele Menschen dachten über ihr Lächeln nach, haben sich überlegt, ob ihr eigenes Lächeln vom Typ der Julia Roberts oder Mona Lisa wäre. Und warum? Es scheint, dass das Bild Nahrung für die Köpfe und Herzen bis zum Maximum gab. Es hat die Ressource erschöpft. Aber es wurde nicht gleichzeitig billiger. Einmal wurde sie nach Moskau gebracht. Natürlich kannte ich sie durch Reproduktionen. Ich bin hingegangen das Original zu sehen. Ich erinnere mich an die Warteschlange am Eingang des Puschkin-Museums. Sie sah aus wie die beim Mausoleum. Offensichtlich ist Mona Lisa nicht nur Nahrung für den Verstand und das Herz, sondern auch für etwas anderes.
Einige andere Funktionen der Malerei sind bekannt. In den Gesellschaften mit einem hartem politischem Regime ist es zum Beispiel eine der Funktionen der Kunst, den Menschen zu zeigen, es wäre alles in Ordnung, es gäbe keinen Grund , sich Sorgen zu machen und traurig zu sein. So entstehen schöne Landschaften, prachtvolle Stilleben, Bilder von glücklichen Familien, Freude bei der Arbeit, grandiose Leistungen, Porträts wichtiger Menschen. Den Deutschen zu erklären, was sozialistischer Realismus ist, ist sehr einfach: "Das war in eurer Kunst unter Hitler."
Sie können das Leben nicht nur unter schwierigen Umständen darstellen und dekorieren. Das Spektrum der Sitten und Themen erweitert sich damit natürlich. Ich werde über andere Funktionen der Bilder unten sprechen.
4. Ursprüngliche Illusionen.
In Bezug auf die Bilder meines Vaters dachte ich: die Bilder sind wunderbar, das Interesse des Publikums ist enorm, man muss es ein bisschen zeigen, einen Artikel mehr veröffentlichen, und Menschen, deren Beruf die Kultur der Menschen ist, PR, wie sie heute sagen, werden reagieren. Sie nehmen dann die Sache professionell in die Hand. Es stellte sich heraus, dass die Anordnung der Ausstellungen an den dafür vorgesehenen Orten nicht von den Bildern, sondern von etwas anderem abhängt, das nichts mit den Gemälden zu tun hat. Überall. Mit wenigen Ausnahmen.
5. Im Allgemeinen sind die Orte für die Ausstellung von Gemälden, die Orte, die den Kulturministerien unterstellt waren, sei es in Russland oder in Deutschland, für uns geschlossen. Trotzdem habe ich ungefähr hundert Ausstellungen organisiert. Wo? Im wissenschaftlichen Forschungsinstitut, Foyer von Theatern, Bibliotheken, Clubs, Cafés, Erholungsgebieten usw. In diesem Fall wurde mir von Hunderten von Menschen geholfen. Nicht wegen Geld, sondern weil die die Seele gerufen hat. Manchmal wurden dabei die letzten Ressourcen verbraucht. Die Kunstkritiker unter solchen Menschen waren selten.
6. Kunstwissenschaftler.
Und wer sind diese Kunstwissenschaftler? Nun, Leute, die mit schönen Dingen leben wollten. Die Bilder meines Vaters haben aus irgendeinem Grund ihnen nicht gepasst. Unverständlich. Was für eine Kultur sie selbst den Menschen bringen, das zeigt sich im Fernsehen und in Ausstellungen zeitgenössischer Kunst. Ja, manchmal interessant. Ist es aber oft so?
7. Ich glaube nicht, dass sie schlecht funktionieren. Sie sind sehr ernste Leute. Schließlich sind sie verantwortlich für das meiste von allem, was Genies auf der ganzen Welt geschaffen haben! Und die Preise für diese Kunstwerke sind beträchtlich. Bei manchen Werken variieren die Kosten von 50 bis 150 Millionen Dollar pro Bild. Braque, Picasso, Van Gogh, Renoir ... Unseriöse Menschen würden solche Beträge nicht ins Spiel bringen. Und vom Futter für den Verstand und das Herz kann nicht die Rede sein. Mit der aktuellen Technologie. Klick mit Kamera, eingefügt ins Internet, und jeder kann sehen! Kostenlos.
Denke nicht, dass es nur irgendwo im Ausland solche Preise sind. Wir sind nicht schwächer. Die am meisten geförderten kommerziellen Galerien nennen sich Underground und haben solche Ausstellungsflächen in der Nähe des Gartenrings in Moskau ergattert, mann kann es kaum glauben. Ich meine Winzavod. Sie haben ihre eigene Sprache. In dieser Sprache bedeutet " Underground" das Niveau der Förderung, "Nonkonformismus" - die Fähigkeit, mit den Behörden zu verhandeln, "Avantgarde" - die Kunst von vor hundert Jahren, "assoziative Kunst" bedeutet, dass sie nur ihre eigenen zeigen, usw. Es scheint, dass in der russischen Sprache nur ein aufrichtiger Ausdruck überlebt und sogar in Mode gekommen ist. Es ist "wie". Es weist auf eine unvollständige Übereinstimmung der gesprochenen Worte der Realität hin. Wie dort Tjutschew: "Der gesprochene Gedanke ist eine Lüge." Manchmal, Gott sei Dank, auch wie eine Lüge.
Kürzlich stand ich in der Schlange für das Puschkin-Museum in der Picasso-Ausstellung. Gegenüber einer Villa. Drauf stand: Ilya Glazunov’s Werkstatt. In seiner Nähe ist noch ein kleiner Palast im Bau. Es steht geschrieben: Hier wird sein Museum sein. Dies ist im Zentrum von Moskau, in der Nähe des Kremls. Meiner Meinung nach nicht schwach.
8. Briefe an die Spitze und Reaktionen auf sie.
Ich schrieb direkt - nach oben. In Deutschland an den Bundeskanzler, denn im Fernsehen gab es eine Sendung darüber, dass er den Expressionismus liebt. Und in Russland an den Kulturminister. Die amtlichen Reaktionen waren ähnlich höflich: der Behördentreppe hinunter durchgesenkt und Wünsche von viel Glück in Zukunft. In Russland war das letzte Telefongespräch mit einer Dame des Kulturministeriums, zu der meine Materialien geschickt wurden. Unter anderem sagte sie mir: "Wenn nun jemand aus der Regierung eine Anweisung uns gibt ..." Eine weitere interessante Funktion des Kultursystems ist es, der Regierung zu dienen. Als ob letztere in Sachen Kultur kompetenter wäre als ihr Kulturministerium.
Und wenn es um die Organisation geht, die sowohl kompetent, als auch informiert ist, so ist es ihre Aufgabe, nach Feinden zu suchen, und wenn es keine zu finden sind, dann welche zu schaffen. Und die Aufgabe, Bilder zu zeigen, ist insbesondere die Suche nach Freunden. Und Freunde finden. Und die beiden gegensätzlichen Funktionen zu kombinieren, klappt irgendwie nicht.
9. Seelenimpulse, Hilfsbereitschaft von weniger professionellen Menschen, mit denen ich gearbeitet habe. Es gibt viel zu sagen über sie, aber der Bericht ist nicht darüber. Natürlich sind es nicht nur die Besonderheiten des Kultursystems, sondern auch die Eigenschaften meines Charakters und meiner verstorbenen Mutter. Es gibt andere die es schaffen, ihre Ziele durchzusetzen. Hier ist ein Beispiel: das Museum von Vadim Sidur. In den 70er Jahren besuchte ich den Keller seines Ateliers. Und plötzlich, in den 90ern, als ich von der Emigration zurückkehrte, erfuhr ich, dass in Moskau sein Museum ist.
Damit Sie wissen, was ich von seiner Arbeit empfinde, werde ich Ihnen erklären: In Italien war Michelangelo, in Frankreich Rodin, in Russland Sidur. Nun, es ist unmöglich Venus von Milos zu vergessen. Ja, mir ist bewusst, dass es andere Bildhauer gab, aber für mich ist das nicht so wichtig.
Im Sidur-Museum bekam ich ein kleines Buch vom Sohn des Bildhauers, Mikhail Vadimovich, darüber, wie dieses Museum erschaffen wurde, wie viel Mühe es gekostet hat. Natürlich haben weder ich noch meine Mutter für die Gemälde des Vaters nicht mal ein Zehntel solcher Anstrengungen unternommen. So ein Gedanke kam in unsere Köpfe nicht eimal. Um mit der Tatsache zu beginnen, dass Mikhail Sidur Kunst gelernt hat, der Direktor einer Ausstellungshalle wurde und damit in das System eintrat! In den 90er Jahren, als nicht alle beschlagnahmt wurden. Meine Mutter und ich sind kein Vergleich. Sie war eine Schriftstellerin, sie schrieb Bücher. Ich male. Ja, es passierte, dass jemand von den Behörden zu unseren Eröffnungstagen kam. Aus dem Russischen Museum und aus der Tretjakow-Galerie. Manchmal nahmen sie sogar an der Eröffnung teil, und das war begrenzt.
Und ich, der vierzig Jahre lang die Keller und Dachböden betrachtete, dachte an die Werkstatt meines Vaters im Keller und träumte von sich. Hätte ich lieber Geschäfte gemacht, Geld verdient, sich einen Dachboden gekauft! Aber nein. Stattdessen Ausstellungen arrangiert, in die Augen geschaut.
10. Flucht in das virtuelle Welt.
Ich habe eine Website im Internet erstellt. Eine gemeinsame - für den Vater und mich selbst. Im einfachsten Programm. Ich zeigte alles, was ich wollte: Bilder, Artikel, Videos. Ich verbeugte mich vor niemandem, zahlte nichts. Ja, keine Originale, sondern elektronische Kopien. So ist das Essen für den Verstand und das Herz des Publikums. Verfügbar. Schließlich wurde das Puschkin-Museum einst als ein Museum für Kopien angesehen.
Abschließend zeige ich das Material, mit dem ich das oben beschriebene Wissen erhielt - eine 5-minütige Videosequenz der Bilder meines Vaters [https://www.youtube.com/watch?v=7SBVkIgdnXo]. Zuerst . Zuerst einige Werke der Übergangsperiode vom Realismus zum Expressionismus und dann die Hauptarbeit.
Zusammenfassung:
Die Anordnung der Ausstellungen an den dafür vorgesehenen Orten hängt nicht von den Bildern ab, sondern von etwas anderem, das mit den Bildern nichts zu tun hat. Üblicherweise ist es so, es gibt aber auch Ausnahmen.
Ausstellungen an anderen Orten hängen von den Menschen ab, die für diese Orte verantwortlich sind. Wo die Position eine Person schmückt, und wo - eine Person ihre Position.
Freiheit blieb im Internet.