Günther Petzold
Stuttgarter Zeitung Nr. 65
Aus Stuttgart, 22
Freitag, 19. März 1982
Russischer Immigrant geht auf die Straße
Werbung für des Vaters Bilder
Vaterverehrung ist nichts Ungewöhnliches. Darin gleicht der junge russische
Geophysiker Dr. Valery Valius, der vor knapp vier Jahren aus der Sowjetunion
emigriert ist und seit zwei Jahren in Stuttgart lebt, vielen jungen Leuten auch
anderer Völker. Seltener ist schon, daß Vaterverehrung einen Sohn auf die Straße
treibt, wie es bei Dr. Valius der Fall ist. Weshalb er das tut, erzählte der
russische Wissenschaftler kürzlich in der Fußgängerzone der Kronprinzstraße, wo
er wieder einmal für einen Samstag eine „Straßen-Galerie" zur Präsentation
der Bilder seines 1972 gestorbenen Vaters eröffnet hatte.
Sein Vater, der Moskauer Buchillustrator Piotr Adamowisch Valius, hatte in der
Freizeit, wie sich der Sohn erinnert, heimlich und leidenschaftlich gemalt;
allerdings nicht im amtlich abgesegneten Stil des „sozialistischen Realismus",
sondern „verdächtig" surrealistisch und gar abstrakt. Seine Werke durften daher
nie öffentlich gezeigt werden. Nach dem Tod des Vaters aber veranstaltete der
Sohn zusammen mit seiner Mutter im Keller des väterlichen Ateliers eine
Ausstellung, in der die Bilder ebenso heimlich gezeigt wurden wie sie gemalt
worden waren. Nahezu 50 000 Besucher - Bekannte sagten es wiederum ihren
Bekannten - kamen heimlich in diese Ausstellung, bevor die Polizei die
Ateliertür aufbrach. Aber der kurz zuvor gewarnte Sohn hatte die Bilder
rechtzeitig weggeschafft und später in die Bundesrepublik - er hatte hier ein
wissenschaftliches Stipendium erhalten - mitgenommen.
Als russischer Immigrant in der Bundesrepublik mußte er dann allerdings die
betrübliche Erfahrung machen, daß auch hier niemand die Bilder seines Vaters
ausstellen wollte. Die Museen winkten ab: sie seien für Jahre ausgebucht. Und
die Privatgalerien sahen kein Geschäft in dieser Sache. Der russische
Wissenschaftler weiß nicht, ob die Gemälde den künstlerischen Ansprüchen des
Westens entsprechen; er hat nur die Überzeugung: „Bilder sind nicht dazu da, mit
dem Gesicht zur Wand im Keller zu stehen; sie wollen gesehen werden".
Dr. Valius faßte also den Plan, in seiner Freizeit von Stadt zu Stadt zu ziehen
und - mit behördlicher Genehmigung natürlich - die Gemälde auf der Straße den
Passanten zu zeigen. Und es bedeutet für ihn schon eine Genugtuung, wenn er mit
den Leuten über diese Bilder sprechen kann.